Arve Brunvoll:

LUTHERS LIEDER ALS GEBETE.
(-> norsk tekst)

I. 1.Sind Luthers Lieder Gebete?

So weit ich sehe, enthält nicht das Schrifttum Luthers besondere Überlegungen zum Thema "Lied und Gebet". Ich glaube auch, daß es sich nicht lohnen würde, viele Mühe darauf anzuwenden, nach eventuellen Einzelaussagen zum Thema zu suchen. Fruchtbarer wird es sein, nach dem Gebetsverständnis Luthers zu fragen, und dann auf diesem Hintergrund die Lutherlieder selbst zu studieren.

Wenn wir die Lieder Luthers im Hinblick auf unsere Frage mit Hilfe eines engen Gebetsverständnisses untersuchen wollten, würde die Sache vom Anfang an schief gehen. Zwar könnten wir die Lieder nach Form in verschiedenen Kategorien einteilen, und so auch eine Anzahl "Gebetslieder" finden. Doch würden uns dann bestimmt entscheidende Perspektive entgehen.

2.Das Gebetsverständnis Luthers.

2.1 Die Definition des Gebets.

Wenn wir die Terminologie Luthers untersuchen, ergibt sich, daß Luther auf der einen Seite "Gebet",bzw. "oratio", in einem engeren Sinne, als synonym mit "Bitte" anwenden kann. Auf der anderen Seite wird "Gebet" in einem weiteren Sinne benutzt, nicht nur Bitte, sondern auch Lob und Danksagung umfassend (s. Wertelius, 20f). Es handelt sich hier u.E. nicht um eine schwankende Terminologie, sondern um eine terminologische Offenheit, die in innerem Zusammenhang mit Luthers Gedanken steht, und die auch für uns notwendig ist, wenn wir Luthers Gebete und Lieder begreifen wollen.

2.2. Tat und Gebet.

Das Gebetsverständnis Luthers geht nicht nur aus der Definition eines Wortes hervor, sondern vor allem aus dem Verhältnis zwischen dem Gebet und anderen Phänomenen des christlichen Lebens hervor.

Obwohl Luther das Wort des Hieronymus :"Alle Werck der gleubigen ist gebet" kennt, und es in gewissem Sinne bejaht, bedeutet es für ihn offensichtlich nicht, daß Tat und Gebet aus-tauschbar sind, etwa im Sinne einer modern-säkularistischen Aktivismus.

Wenn auch Luther die Werke der Gläubigen als Gebete betrachten kann, dann sieht er auf die Gedanken und den Glauben, die diese Werke der Gläubigen bestimmen, und die den Werken einen zusätzlichen Gebetscharakter verleiht. So kann auch Luther das Wort zustimmen: "Wer trewlich erbeitet, der bettet zwifeltig",

weil er in seiner erbeit Gott furchtet und ehret und an sein gebot denckt...Und solche gedancken und glauben machen on zweivel aus seinem werck ein gebet und lobopffer dazu (Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund,1535, WA 8, 359.13-17).

In diesem Sinne kann Luther von "einem stettigem gebet", ein Beten "on unterlas", reden (ibid). Dieses Gebet ist unaufhörlich, wie der Pulsschlag des Menschen so lange es lebt.

Wo ein Christ ist, da ist eigentlich der heilige Geist,

der da nichts anders thut, denn jmerdar betet, Denn ob er nicht jmerdar den mund reget oder wort machet, dennoch gehet und schlegt das hertz (gleich wie die puls adern und das hertz im leib) on unterlas mit solchemn seufftzen: Ah, lieber Vater, das doch dein name geheiligt werde, dein Reich kome, dein wille geschehe bey uns und jderman etc. Und darnach die püffe oder anfechtung und not herter drucken und trteiben, darnach gehet solch seufftzen und bitten deste stercker auch mündlich, Das man keinen Christen kan finden on beten so wenig als ein lebendigen menschen on den puls (Auslegung des 14.-15. Kap. Johs., WA 45, 41.27-37).

Dies bedeutet aber nicht, daß das Gebet seinen besonderen Ort verliere. Gerade im Gegenteil. Luther weiß, daß das Gebet ständig der Bedrohung ausgesetzt ist, von den Werken des Alltags verschlungen zu werden. Deshalb fordert die Wichtigkeit des Gebets, daß alles anderes um dieses Gebets willen beiseitegelegt wird.

ERstlich, wenn ich füle, das ich durch frembde geschefft oder gedancken bin kalt und unlustig zu beten worden, wie denn das fleisch und der teuffel allwege das gebet wehren und hindern, Neme ich mein Pselterlein, lauffe jnn die kamer oder, so es der tag und zeit ist, jnn die kirchen zum hauffen und hebe an, die Zehen gebot, den Glauben und, darnach ich zeit habe, ettliche sprüche Christi, Pauli oder Psalmen mündlich bey mir selbs zu sprechen, aller ding, wie dei kinder thun (Eine einfältige Weise..., WA 8, 358.5-359.3).

2.3. Lehre, Bekenntnis und Gebet.

Bezeichnend für Luther ist, daß er das Gebet im seinem zusammenhang mit dem ganzen geistlichen Leben des Christen verstehen will. Deshalb will er das Gebet auch nicht von anderen Phenomenen dieses geistlichen Lebens durch eine enge Definition abgrenzen.

Sodann kann "Gebet" etwa mit "Gottesdienst" gleichbedeutend sein und mehr als das, was im Äußeren die Form des Gebets oder der Bitte hat, umfassen. Vom Gottesdienst Hannas im Tempel sagt Luther:

Das ist nu das ander stück gottisdienst, darynnen die seel gott geopffert wirt, gleychwie der leyb ym fasten. Und wirt durch gebet auch vorstanden nit alleyn das mundlich gepett, ßondern alles, was die seel schafft ynn gottis wort, tzu hören, tzu reden, tzu tichten, tzu betrachten etc. Denn gar viel psalmen werden ym gepett gesprochen, darynnen doch kaum drey verß ettwas bitten, die andern sagen unnd leren ettwas, straffen sund, reden mit gott, mit yhm selb und mit den leutten (Predigt zu Luk.2, WA 10 I 1, 435.8-13).

Hier liegt wohl nicht bei Luther eine willkürliche Benutzung des Wortes "Gebet" vor, sondern ein bewußter Ausdruck des Gottesdienstvertändnisses Luthers. So urteilt V.Vajta in einem anderen Zusammenhang: "Man muß Luthers Beten im Gottesdienst als eine Dimension der ganzen Ordnung betrachten" (Vajta, 280).

Diese Perspektive bestimmt auch Luthers Aussage vom Gebet als Kennzeichen der Kirche in Von den Konziliis und Kirchen:

Zum sechsten erkennet man eusserlich das heilige Christliche Volck am gebet, Gott loben und danken öffentlich. Denn wo du sihest und hörest, das man das Vater unser betet und beten lernet, auch Psalmen oder Geistliche lieder singet, nach dem wort Gottes und rechtem glauben, Item den Glauben, Zehen gebot und Catechismum treibet öffentlich, Da wisse gewis, das da ein heilig Christlich volck Gottes sey. Denn das gebet ist auch der theuren heilthumb eins, dadurch alles heilig wird, wie S.Paulus sagt. So sind die Psalmen auch eitel gebet, darin man Gott lobet, dancket und ehret, Und der Glaub und Zehen gebot, auch Gottes wort und alle eitel heilthum, dadurch der Heilige geist das heilige volck Christi heiliget. Aber wir reden vom gebet und gesenge, das verstentlich ist, daraus man lernen und sich bessern kan, Denn der Münche, Nonnen, Pfaffen lören ist kein gebet, auch kein Gottslob, Denn sie verstehens nicht und lernen nichts draus, Thuns also hin, wie ein Eselserbeit, umb des bauchs willen, und wird gar kein besserung, noch heiligung, noch Gottes wille darin gesucht (Von den Konziliis und Kirchen, 1539, WA 50,641.20-34).

Eine verwandte Perspektive kommt in der besonderen Gebetsunterricht Luthers zum Ausdruck, d.h. im Betbüchlein 1522, in den Katechismen 1529 und in Eine einfältige Weise zu beten... 1535. Hier knüpft Luther auf eigenartige Weise die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser zusammen:

Alßo leren die gepot den menschen seyn kranckheyt erkennen, das er sihet und empfindet, was er thun und nit thun, lassßen und nit lassen kan und erkennet sich eynen sunder und boßen menschen. Darnach helt yhm der glawb fur und leret yhm, wo er die ertzney, die gnaden finden sol, die yhm helff frum werden, das er die gepott halte. Und tzeygt yhm gott und seyne barmhertzickeyt ynn Christo ertzeygt und angepotten. Zum dritten leret yhm das vater unßer, wie er die selben begeren, holen und zu sich bringen soll, nemlich mit ordentlichem, demütigem, trostlichem gepett, ßo wirts yhm geben, und wirt alßo durch die erfullung der gepot gotis selig. Das sind die drey dingk yn der gantzen schrifft (Betbüchlein,1522, Vorrede zur "Kurzen Form", WA 10II,377.4-13).

In diesem Text tritt das Gebetsverständnis Luthers deutlich hervor. Das Gebet ist nicht der Anhang irgendeines locus des Glaubens, sondern mit dem Glauben zusammenfallend. Das Gebet ist sozusagen die Hand, womit der Glaubende Gottes Gnade und Barmhertzigkeit empfängt. Die Antwort des Glaubenden im Gebet ist hier auch das Ziel des Meditierens der Gebote und des Credos. (Zum Verhältnis zwischen Luthers in 1529 entstandenen Betbüchlein, Katechismen und Gesangbuch, s. Jenny, 311-312.)

Was oben gesagt ist, zeigt auf eine enge Verknüpfung zwischen den drei "Stücken": Gebot, Glaubensbekenntnis und Gebet.

Von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, wird aber diese Verteilung des Katechismusinhaltes auf drei "Stücken" selbst nur eine relative. Dieselbe Texte können einen mehrfachen Gebrauch haben, und zwar kann alles Gebet werden.

Auch die Gebote können, und zwar auf mehrfache Weise, Gebet werden:

Wenn ich aber zeit und raum habe fur dem Pater noster, so thu ich mit den Zehen geboten auch also und hole ein stück nach dem andern, damit ich ja gantz ledig werde (So viel es müglich ist) zum gebet, Und mache aus einem jglichen Gebot ein gevierdes oder ein vierfaches krentzlin, Als: Ich neme ein jglich Gebot an zum ersten als eine lere, wie es denn an jm selber ist, Und dencke, was unser Herr Gott darinn so ernstlich von mir fordert, Zum andern mache ich eine dancksagung draus, Zum dritten eine beicht, Zum vierden ein gebet, nemlich also oder mit der gleichen gedancken und worten:... (Eine einfältige Weise zu beten ..., WA 38, 364.28- 365.4).

In diesem Text fährt dann Luther fort und zeigt ausführlich, wie wir mit den Zehn Geboten vorgehen können.

Nach Luther ist es wirklich so, daß alle Texte in dieser meditierenden Weise Gebet werden können. Nachzuweisen wie dies im einzelnen geschehen könnte, wäre aber eine unendliche Aufgabe.

Vom Glauben oder heiliger Schrifft ist hie nicht zu sagen, denn das were ein unendlich ding. Wer geubt ist, kan hie Wol einen tag die zehen gebot, den andern einen Psalm oder ein Capitel aus der Schrift zu solchem feurzeug nemen und jnn seinem hertzen damit feur auffschlagen (ibid., 373.4-7).

Dies stellt auch Vajta fest:

Darüber hinaus wurde ihm in gewissem Sinne die ganze Bibel, besonders aber der Psalter, zum Gebetbuch. Gepredigtes und gebetetes Wort Gottes war unerläßlicher Bestandteil christlichen Gottesdienstes. Für Luther ergab sich so ein Gebet "ohne Unterlaß", was eine allzu enge Definition von Gebet sprengte. Oratio, meditatio und tentatio werden zu einem Ganzen und bilden den Hintergrund für eine das ganze geistliche Leben umfassende Theologie (Vajta, 806, Note 10).

Für das Verhältnis zwischen Meditation und Gebet ist dies aufschlußreich: "So ist das 'Überdenken' eines Bibeltextes, also die meditative Auslegung der Schrift, für Luther zugleich immer ein Beten" (Mahrenholz, 269).

3.Folgen für das Verständnis des Liedes als Gebet.

Für unsere Betrachtung der Lieder Luthers sind die obige Ausführungen von großer Bedeutung.So wird eine Aufteilung der Lieder Luthers in Kategorien, wie z.B. die des "Lehrliedes", des "Bekenntnisliedes" und des "Gebetsliedes", dem Gebetsverständnis Luthers gar nicht treffen.

Auf diese Weise können auch Luthers "Dies sind die heiligen zehn Gebot" einen vierfachen Gebrauch haben, die alle zusammen im Sinne des meditativen Betens zum Gebet gerechnet werden können: "als ein lerebüchlin, als ein sangbüchlin, als ein beicht büchlin, als ein Betbüchlin" (Eine einfältige Weise..., WA 38, 372.26-27).

Eine enge und formale Gebetsdefintion im Hinblick auf die Lieder Luthers würde schon aus dem Grunde scheitern, daß eine solche Definition sich nicht auf die "Vorlage" des christlichen Liedes, den biblischen Psalm, anwenden ließe. Sie würde den Gebetscharakter großer Teile des Psalters verkennen, vgl. oben die Aussage von den Psalmen.

Doch wollen wir nicht verneinen, daß die Lieder verschiedenen Charakter haben, d.h. daß einige mehr "Lehr-Lieder" und andere typische "Gebets-Lieder" sind. Das hat nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit der Form des Liedes zu tun, z.B. ob es die Form einer Anrede an Gott hat, oder nicht. Aber wenn wir nachsehen, finden wir gleich , daß Luther in seinen Liedern, wie auch der Verfasser mancher alttestamentlichen Psalmen, sich eines Adressatenwechsels bedient, was kaum bedeuten kann, daß z.B.innerhalb eines Gebetliedes das Gebet währens ein paar Strophen aufhört. Ein Beispiel wäre das Loblied zur Inkarnation, "Gelobet seist du, Jesu Christ" (EKG 15), wo nur die erste Strophe, der äußeren Form nach, ein Loblied an Christus wäre, die anderen Strophen aber eine Verkündigung an den Menschen. Diese Aufteilung wäre unbefriedigend. Wie in den Psalmen wechselt die Form zwischen Verkündigung, Aufforderung zum Loben Gottes und direkt an Gott gerichteter Lobpreis. Es handelt sich hier m.E. um verschiedene Schichten des Psalms, mehr als um ein eigentlicher Adressatenwechsel.

Wenn es um die Lieder Luthers als Gebet geht, handelt es sich also um einer möglichen Perspektive des ganzen Liedschaffens Luthers, und wir dürfen von vornherein ein Teil des Materials ausschließen.

4.Das Lied als musikalische Gestaltung des Gebets.

4.1.Die Musik als Gestaltungselement des gemeinschaftlichen Gebets.

Das Gebet gehört dem Privatleben des einzelnen Christen, sowohl als der häuslichen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der Gemeinde. Luther verfaßt gottesdienstliche Gebete, er gibt Unterricht für das Gebet der Hausandacht und für das Gebet im "Kämmerlein". Grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen diesen Formen des Gebets. Wertelius spricht von einer "Wechselwirkung zwischen dem Gebet des einzelnen und dem der gesamten Christenheit" (Wertelius, S.334f).

Darumb nach der rechten ordenung der liebe sollen wyr am aller meysten vor die Christenheyt bitten. Daran wyr meher thun, da vor unsselbst bitten. Dan als Chrysostomus sagt, Wer vor die gantz Christenheit beth, vor den bit wyder die Christenheit. Ja eben yn dem selben bit er mit der Christenheit vor sich selbst. Und nit ein gut beet ist, da einer fuer sich allein bittet" (Auslegung deutsch des Vaterunsers 1519, WA 6, 114.17-21).

Es wäre nicht sinnvoll, die Lieder Luthers als entweder dem gemeinschaftlichen oder dem privaten Gebet zugehörend zu betrachten. Die Lieder können in der Kirche, auf dem Marktplatz, im Hause bei dem Tisch, im Kammer des Einzelnen gesungen werden. Immer singt der Einzelne und die Gemeinde zusammen.

Doch hat das gemeinsame Gebet einen gewissen Vorrang:

Man kan und sol wol uberal, an allen orten und alle stund beten, Aber das Gebet ist nirgend so krefftig und starck, als wenn der gantze hauffe eintrechtiglich mit einander betet (Pred. zur Weihe der Schloßkirche in Torgau (Druck) WA 49, 593, 24ff).

Zu diesem gemeinschaftlichen Gebet steht das Lied in einem besonderen Verhältnis. Meistens wird ja das Gebet im gemeinschaftlichen Gottesdienst von einer einzelnen Person vorgetragen, im Nahmen der Gemeinde. Das Besondere in der Musik ist die Ermöglichung des lauten, gemeinsamen Gebets der Versammlung.

Oskar Söhngen macht darauf aufmerksam, wie oft Luther in seinen Tischreden seine Verwunderung ausdrückt, daß zwei Menschen zwar nicht zugleich sprechen, wohl aber zugleich zu singen vermögen (s. Söhngen,Theologie..., 69, Note 133).

4.2.Die Musik als affektives Element des Gebets.

Gibt es ein besonderes Verhältnis zwischen Gebet und Lied, bzw.Singen? Fügt die poetische Form, bzw.die Musik dem Gebet etwas hinzu?

Zum poetischen Form der Lieder Luthers sagt Ulrich S. Leupold: "Luther's hymns were meant not to create a mood, but to convey a message. They were a confession of faith, not of personal feelings" (Luther's Works, Bd.53, Philadelphia 1965, S.197).

Leupold sieht hier einen entscheidenden Gegensatz zu den Liedern der Romantik. Wenn es um die Gefühle des Individuums geht, ist das natürlich richtig. Zweifelhafter ist, ob eine derart pauschale Trennung zwischen Gemütsstimmung, oder Affekt, und Vermittlung einer Botschaft mit Luthers Auffassung, vor allem seiner Auffassung der Musik, zurecht kommt.

Es wird wiederholt behauptet, daß Luthers liturgisches und hymnologisches Bemühen nur einen pädagogischen Zweck hatte, vgl. seine Überlegungen in der Deutschen Messe und die Aussage in der Vorrede des Wittenberger Gesangbuches von 1524, er wollte gern, daß die Jugend "der bul lieder und fleyschlichen gesenge los werde und an derselben stat ettwas heylsames lernete" (WA 35, 474.21-425.1). Das wäre doch nur die eine Linie des Lutherschen Denkens. Fraglich ist überhaupt, ob ein solcher Begriff des Pädagogischen, wonach die poetisch-musikalische Form als pädagogisches Hilfsmittel nur in einer äußerlichen Relation zum vermittelten Lehrinhalt stehe, bei Luther am Platz ist.

In den Dictata sper Psalterium 1523-16 überlegt Luther das Verhältnis zwischen Verstand und Affekt im Hinblick auf das Singen:

Nota,quod cantare et dicere differunt, quod psallare vel psalmum dicere et tantummodo intellectu agnoscere et docere. Sed vocem addendo fit cantus, que vox est affectus. Sicut ergo verbum est intellectus, sic vox ipsius affectus (WA 4, 140.31-34).

("Merke, daß sich Singen und Sprechen unterscheiden, wie einen Psalm singen oder rezitieren und bloß verständesmäßig Erkennen und Lehren. Wenn die Stimme hinzukommt, wird es ein Gesang, der die Stimme des Affekts ist. Denn so wie das Wort verständesmäßig zu begreifen ist, so stellt es sich in der Stimme affektmäßig dar" (Übersetzung nach Söhngen, Theologie..., 96) .

Dieses Verständnis der Musik gehört nicht nur dem jungen Luther. Obwohl die Terminologie wechselt, kommt das intime Verhältnis zwischen Wort und Musik auch bei dem reifen Luther zum Ausdruck.

Solchen hertzen ist der Psalter, weil er den Messiah singet und predigt, ein süßer, tröstlicher, lieblicher Gesang, wenn man gleich die bloßen wort, on noten, daher lieset oder saget. Doch hilft die Musica, oder noten, als ein wunderlich Creatur und gabe Gottes seer wol dazu, sonderlich wo der hauffe mit singet, und fein ernstlich zu gehet (Von den letzten Worten Davids, WA 54, 33.34-34.2).

Die Rolle der Musik bei der Aneignung des Wortes wird auch in der Vorrede zu den Begräbnisliedern 1542 unterstrichen:

Das also solcher schöner schmuck der Musica in rechtem Brauch jrem lieben Schepffer und seinen Christen diene, Das er gelobt und geehret, wir aber durch sein heiliges wort, mit süßem Gesang ins Hertz getrieben, gebessert und gesterckt werden im glauben. Das helffe uns Gott der Vater mit Son und heiliger Geist, Amen (WA 35, 480.5-9, Unterstreichung von AB).

Interessant ist es diese Untersuchung der Musikanschauung Luthers mit den anthropologischen Überlegungen Geoffrey Wainrights zu vergleichen. Zum Verhältnis zwischen Religion und Poesie behauptet Wainwright: "It is towards poetry that the `ecstatic reason'... of the religious believer presses when it comes to speech" (Wainwright, 205). Von der theologischer Bedeutung ist das Verständnis des Singens als Zeichen des integrierten Menschen im Gottesdienst:

The anthropological point that is of significance for theology is that singing clearly demonstrates worship -and therefore the divine kingdom and human salvation - to be an affair of the whole person, mind, heart,voice, body (ibid. 200).

Die wechselseitige Inklination von Evangelium und Musik stellt das Herzstück von Luthers Musikanschauung dar (s. Söhngen, Theologie...,91f). So kann Luther von der vorreformatorischen deutschen Versifizierung des Osterantiphons Veni sancte spiritus, reple tuorum corda fidelium (erste Strophe des Lutherlieds "Komm Heiliger Geist, Herre Gott", EKG 98) sagen, daß Wort und Melodie beide von DHG gemacht waren, WA,TR 4, 334, No.4478 (vgl. Leupold, Luther's Works, Bd.53, 265).

Die Bedeutung der Musik gerade im Kirchenlied kommt auch in dem Rat Luthers an dem angefochtenen Matthias Weller zum Ausdruck, er solle den Teufel mit Singen und spielen vertreiben, und zwar mit dem Tedeum und dem Benedictus, WAB VII, 105.28 (s. Mahrenholz, 260).

5.Hauptaspekte des Gebets, wie sie in den Liedern Luthers zum Ausdruck kommen.

5.1.Das Loben Gottes.

Es darf nicht übersehen werden, daß Luther mehreren von den wichtigsten altkirchlichen Gotteshymnen und Christushymnen verdeutscht hat. Das tut er natürlich nicht aus Zwang oder als etwas nebensachliches. Er meint Ernst mit seinem Tedeum, "Herr Gott, dich loben wir" 1529, mit seinen schönen Christushymnen aus dem Jahre 1524, "Nun komm der Heiden Heiland", dem Veni redemptor gentium, und "Christum wir sollen loben schon", dem A solis ortus cardine, sowohl als mit dem Vesperhymnus zur dreieinigen Gott, O lux beata Trinitas, "Der du bist drei in Einigkeit" 1543. Es kann kein Zweifel sein, daß auch in diesen Liedern Luthers Trinitäts-theologisches und christologisches Anliegen genuin zum Ausdruck kommt. Doch sollten wir die originale Liedschöpfungen Luthers als Maßstab annehmen.

Wie in den biblischen Psalmen gilt der Lobpreis Gottes vornehmlich Gott in seinen Werken. Als Beispiele nennen wir "Wär Gott nicht mit uns diese Zeit" (EKG 192) und "Es wolle Gott uns gnädig sein" (EKG 182). Auch das Glaubenslied "Wir glauben all an einen Gott" ist ein solches Loben Gotters in seinen Werken.

Für Luther sind die Werke Gottes vor allem das Heil in Christo. Wie könnte es anders sein, da der Tenor seiner Theologie eben Gott in Christo ist? Nicht ohne Grund ist ja Luther der Kronzeuge Feuerbachs für die Behauptung, daß die ganze Theologie Christologie (d.h. für Feuerbach: Anthropologie) geworden ist.

Luther preist die grundlegende Heilstatsachen (ich schäme mich nicht des Wortes und des Begriffes). Dies ist doch bei Luther ohne den gleichzeitigen Dank für das zugeeignete Heil undenkbar. Dies ist natürlich der Fall im Glaubenslied, aber vor allem auch in den Christusliedern "Gelobet seist du, Jesu Christ" (EKG 15) und "Christ lag in Todesbanden" (EKG 76) (obwohl förmlich kein Loblied).

Der Lobgesang muß Gott Gott sein lassen, d.h. der echte Lobpreis Gottes weiß, mit Maria, daß Gott in der Geringheit schafft, sub contraria (vgl. Wertelius, 60). Dieser Gedanke begegnet uns auch in den Liedern, z.B. in den Strophen 4-5 des "Ach Gott vom Himmel sieh darein". In dem Wort wird Gottes Kraft erkannt, und das Wort "will durchs creutz beweret seyn".

Ist das Lobgebet bei Luther mit der Bitte verknüpft, wie in den biblischen Psalmen? Eine solche These ließe sich kaum bestätigen. Mindestens förmlich ist die Bitte, bzw. Klage und Bitte, nicht in Luthers Lobliedern enthalten. Am nähesten kommen wir die Einheit von Doxologie, Klage und Bitte in "Mitten wir im Leben sind" (EKG 309). Daß wir aber behaupten können, die Bitte klinge doch immer bei dem Loben mit, ist eine andere Sache.

5.2.Das Gebet in der Not. Anfechtung und Gebet.

Das Wesentliche des Gebetsverständnisses Luthers findet Ludwig Feuerbach in Luthers Überlegungen zum Verhältnis zwischen Not, oder Anfechtung, und Gebet ausgedruckt:

Außer der Anfechtung", sagt er in seinen Tischreden, "kann kein Gebet geschehen. Darum saget David wohl: Rufe mich an in der Not, sonst ohne die ist's ein kalt Geplepper und gehet nicht von Herzen, wie man sagt: Not lehrt beten (Ludwig Feuerbach, Ergänzungen und Erläuterungen zum Wesen der Religion, Gesammelte Werke, 10, Berlin 1971, 96).

So überrascht es auch nicht, daß Luther die Not gerade in die Gebetsdefinition hineinziehen kann: "Das heisset aber gebet, wie das ander gepot leret: Gott anruffen ynn allen nöten" (WA 30 I, 193.32f, Großer Katechismus, zit.nach Wertelius, 86).

Dies hängt mit dem Gottesbegriffs Luthers zusammen. Nur das Gebet in der Anfechtung läßt Gott Gott sein. "Da Gott Helfer und Geber ist, kann er nur in Not und Anfechtung der Gott des Menschen sein" (Wertelius 87). Dies erinnert natürlich wieder an Feuerbach, der hier, wie immer, den richtig verstandenen Luther verdreht.

Kann Luther das wirklich meinen, d.h., kann das ständige Gebet morgens und abends mit diesem Gebet in der Not und Anfechtung wirklich identisch sein? Ich meine ja, und stütze mich dabei auf Wertelius (S.92). Denn:

Kein Christ ist jemals ohne Not und Anfechtung. Luther denkt bei "Anfechtung" nicht nur an den höheren, geistlichen Anfechtungen, sondern auch an den Anfechtung als Drohung gegen die Schöpfung und den Bestand des Lebens (Wertelius, 92).

Wie Luther selbst sagt:

Derhalben müssen wir Christen des gerüstet sein und teglich gewarten, das wir on unterlas angefochten werden, auff das niemand so sicher und unachtsam hyngehe, als sey der Teuffel weit von uns...Denn er ist ein solcher feind, der nymer ablesset noch müde wird, das wo eine anfechtung auffhöret, gehen ymer andere und newe auff (WA 30 I, 209.36-210.5).

Zwar heißt dies nicht, daß die Not immer erkennt wird und zur Anfechtung wird.

Die not aber, so uns beide fur uns und yderman anligen sol, wirstu reichlich gnug ym Vater unser finden; daruemb sol es auch dazu dienen, das man sich der daraus erynner, betrachte und zuhertzen neme, auff das wir nicht lass werden zubeten. Denn wir haben alle gnug das uns manglet, es feylet aber daran das wirs nicht fuelen noch sehen. Daruemb auch Gott haben wil, das du solche not und anligen klagest und anzihest, nicht das ers nicht wisse, sondern das du dein hertz entzuendest deste stercker und mehr zubegehren, und nur den mantel weit ausbreitest und auffthuest viel zuempfahen (Großer Katechismus, WA 30 I, 196,19 - 197,5).

Eben der Mangel an Anfechtung kann die Not des Menschen zeigen:

Wer ist ohne Anfechtung eine Stunde lang? Ich will schweigen von den Anfechtungen der Widerwärtigkeit, von denen es unzählich viele gibt. Ist doch auch das die gefährlichste Anfechtung, wenn keine Anfechtung da ist und alles gut steht und zugeht, daß der Mensch dabei Gott nicht vergesse... (zit. nach Kunst, 734).

Hinter der Anfechtung der Teufel ist immer Gott gedacht. Gott beabsichtigt mit der Anfechtung zwar nicht dasselbe wie der Teufel, sondern er will den Menschen zum Gebet treiben, d.h. das von Gott gewollte Gebet ist Zweckursache der Anfechtung (vgl. Wertelius, 92).

Hiermit werden Gebet und Glaube aufs innigste verknüpft. Bei Luther ist ja eben der Glaube Zweck und Überwindung der Anfechtung: "Der Glaube ist niemals stärker und herrlicher als dann, wenn die Trübsal und Anfechtung am größten ist" (WA 16, 234.30-31, 2. Buch Mose, zit. nach Kunst, 374). Das Gebet wird dann gerade die Übung des Glaubens in der Anfechtung (vgl. Vajta, 289), und der Glaube kann als Gebet definiert werden:

Ja was ist eyn solcher glaube, denn eyttel gepet? Denn er vorsihet sich gotlicher gnaden on unterlasz, vorsihet er sich aber yhr, szo begerd er yhr ausz gantzem hertzen. Und das begeren ist eygentlich das rechte gepet (Evang. v. d. zehn Aussätzigen, WA 8, 360. 29-32).

5.3.Bestimmtwerden und Bedrängen.

Das Gebet ist nicht eine Belehrung Gottes. Das Gebet belehrt mich was ich nötig habe, WA 38, 464.14-16, Auslegung des Matth.Evangeliums (vgl.Vajta, 807, Note 58). Und in der Jesaja-Vorlesung 1527/30 sagt Luther:

Sprichstu aber: Warumb lesset er uns denn bitten und unsere not furtragen und gibts nicht ungebeten, weil er alle not besser weis und sihet denn wir selbst? ... Antwort: Darumb heisset ers freilich nicht, das wir jn mit unserm beten solchs sollen leren was er geben sol, Sondern darumb daß wirs erkennen und bekennen was er uns fur güter gibt und noch viel mehr geben wil und kan, Also das wir durch unser gebet mehr uns selbs unterrichten denn in, Denn damit werde jch umbgekert, das jch nicht hin gehe wie die gottlosen, die solchs nicht erkennen noch dafur dancken, Und wird also mein hertz zu jm gekert und erwecket, das jch jn lobe und dancke und jnn noten zu jm zuflucht habe und hulffe von jm gewarte, Und dienet alles da zu, das jch jn ye lenger ye mehr lerne erkennen was er fur ein Gott ist (WA 32, 419, 1-15).

Dies könnte so aussehen, als ob es nur um die Gesinnung des Betenden gehe. Doch begegnet uns eben hier die "Paradoxie" des Gebets, "das Gebet sowohl als Einübung in die Bitte "Dein Wille geschehe!" als auch als ein gegen den Augenschein glaubenden Trotzen auf Gottes Verheißung und mit konkreten Bitten zu Gott in der Not Hinlaufen verstehbar" (Beintker, 54f).

Wir können dann im Sinne Luthers vom einem Bedrängen Gottes im Gebet reden (s. Schittko,70).

Nirgends wird dies deutlicher als in dem Bericht Luthers von seinem Gebet in Verbindung mit Melanchthons Schwerkrankheit nach der Doppelehe Philips des Landgrafen. Luther urteilte, daß Melanchthon für die Reformation unentbehrlich war und riß ihm deshalb mit seinem Gebet aus den Armen des Todes:

Allda mußte mir unser Herrgott herhalten; denn ich warf ihm den Sack vor die Füße und rieb ihm die Ohren mit all seinen Verheißungen, die ich in der Schrift aufzuzählen wußte...daß er mich müßte erhören, wo ich anders seiner Verheißung trauen sollte (zit. nach Shittko, 70).

Hier ist von einem Bestehen auf der Verheißung, wie es im Lied "Ach Gott vom Himmel sieh darein", Str.4, zum Ausdruck kommt, ein Bestehen, das den Charakter eines "contra deum ad deum confugere" erhalten kann (vgl. Beintker, 54).

So ist es nur konsequent, daß Luther grundsätzlich den Fatalismus des Islam verwirft:

Und hüte dich fur dem Türckischen, Epicureischen Glauben, da etliche fürgeben: Was soll ich thun? Was ist Beten nütze? Was hilfft viel sorgen? Ists versehen, so mus es geschehen (Vermahnung zum Gebet wider den Türken, WA 51, 614.34- 615.17, vgl. Wertelius, 274).

Um zu zeigen, daß dies Bedrängen Gottes im Gebet in der Liedgeschichte auch anderswo als in Luthers Liedern als Thema zu finden ist, können wir auf das ganz eigenartige Lied Charles Wesleys: "Come, o Thou Traveller unknown" aufmerksam machen. Hier ist vom Ringen Jakobs mit Gott, Gen. 32, die Rede, ein Lieblingsthema Luthers, aber von ihm nicht besungen. Form und Sprache des Wesley'schen Liedes sind zwar nicht Luthers, aber der Inhalt, das Glaubensverständnis, ist es. Die 1. und 4. Strophe würde in deutscher Übersetzung etwa so lauten:

Fahrender, der Du unbekannt
Im Dunklen kommst und ringst mit mir,
Ich halt' Dich fest mit meiner Hand.
Jetzt sind wir zwei alleine hier.
Hier will ich bleiben durch die Nacht
Und ringen, bis die Sonne wacht.

Ob schwach, ich bet': Ergebe Dich!
Ob groß die Angst, mein Glaub' besteht!
Ich fleh' zu Dir: Dein Segen sprich,
Sei doch besiegt durch mein Gebet!
Zeig mir, sonst lasse ich Dich nicht,
Daß Liebe ist Dein Angesicht!
(Original des Liedes beigefügt).

5.4.Die Nöte.

5.41.Die Feinde des Glaubens.

Die Not der Kirche.

Wenn Luther für die Kirche betet, ist es nicht eine theoretische Sache. Die Not der Kirche ist konkret und nahe. Doch kann er mit dem Beter in dem alttestamentlichen Klagelied zusammen beten:

Ach Gott vn hymel sich dar eyn
und las dich das erbarmen,
Wie wenig sind der heyligen deyn
verlassen sind wyr armen.
Deyn wort man lesst nicht haben war,
der glaub ist auch verlosschen gar
bey allen menschen kindern.

Wie im alten Gottesvolk die Zahl der wahrhaft glaubenden klein war, so ist auch die Zeugen des Evangeliums zur Reformationszeit von dem gottlosen Haufen der Verächtern des Evangeliums umgeben. Es sind die Menschen, die auf seine eigene Vernunft statt auf das Wort Gottes bauen. Es sind die Menschen, die meinen, selbst das Recht und die Macht zu besitzen: "Wer ist der uns solt meystern?"

Noch deutlicher als im Lied des Jahres 1524 nennt Luther 1542 die Feinde der gläubigen Christenheit bei Namen:

Erhalt uns HErr bey deinem Wort
Und steur des Papsts und Türcken Mord,
Die Jhesum Christum deinen Son
Wolten stürtzen von deinem Thron.

Wir können uns wohl kaum die Angst Mitteleuropas vorstellen, als der furchtbare Feind vor der Tür stand und schon ein Bündnis mit Frankreich geschlossen hatte, und sich sogar das Gerücht verbreitete, der Papst habe sich dem Bündnis angeschlossen. Die Sorge Luthers geht nicht um die politische Zukunft Europas, sondern um die Christenheit, die unter dem Gericht Gottes steht. Vielleicht kann noch das Gebet in kindlichem Vertrauen helfen, das Gebet der Kinder, die das Vaterunser beten, sagt er. Deshalb lautet auch die Überschrift des Liedes bei Luther selbst: "Ein Kinderlied, zu singen, wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen, den Papst und Türcken, etc."

Es wäre wert zu überlegen, ob die Verallgemeinerung: "und steure deiner Feinde Mord" mit Recht von der Ironie Wackernagels in seiner Vorrede zum Luther-Band der Kirchenliedsammlung getroffen wird. Das würde ich als ein Thema für unser Seminar vorschlagen. Luther kann zuversichtlich sagen: "Gott wollt aus rotten alle lar, die falschen scheyn uns leren!" Wenn er wirklich "lar", d.h."Lehre" schreibt, dann meint er offensichtlich eine Lehre, die im Namen Gottes verkündigt wird, d.h., die Feinde des Evangeliums nennen sich auch "Kirche". Können wir, die wir in einem ökumenischen Zeitalter leben, uns noch vorstellen, daß etwas, das im Namen Gottes gelehrt wird, als "falsch" benannt und so dem Gericht Gottes überlassen werden sollte? Kann jeder Gegensatz zwischen rechter Lehre und Irrlehre in der "reconciled diversity" aufgehoben werden? Wenn wir bei dem Einstimmen in einigen scharfen Zeilen der Lieder Luthers ein gewisses Unbehagen spüren, kann die Ursache entweder eine Unmäßigkeit Luthers oder aber unsere eigene Laxheit sein, wenn wir nicht davon ausgehen dürfen, daß eine grundsätzliche Einigkeit erreicht sei, und folglich die Bedrohung der evangelischen Lehre abgeschafft oder nur als eine abstrakte Möglichkeit vorstellbar. Dann wäre natürlich Luthers Fürbitte für die Kirche in seinen Liedern in manchem revisionsbedürftig.

Die Fürbitte für die Kirche gegen die Feinde ist nicht eine Bitte um den Untergang des Feindes (vgl.Wertelius, 338). Sie ist ein Gebet auch für die Person des Feindes, gegen sein Amt als Gegner. Luther will die Bekehrung des Feindes. Nur wenn er diese Bekehrung abweist, wird das Gebet auch ein Gebet gegen die Person. (Luther sagt wirklich, daß er Herzog Georg tot gebeten habe).

Das Gebet gegen die Feinde kann auch Sündenbekenntnis der Gemeinde enthalten. Die Verfolgung kann Gottes Gericht sein. Nicht in dem Sinne, daß die Kirche doch dem Feind gegenüber Unrecht hat, sondern in dem Sinne, daß Gott die ungerechte Taten der Feinde in seinem gerechten Gericht benutzen kann, um zur Buße zu treiben. So kann auch die Angriffe der Türken als Ausdruck des verdienten Zornes Gottes über Deutschland aufgefaßt werden (vgl. Bornkamm, 523). Hier bekommt bei Luther das Gericht auch endzeitliche Züge.

5.42.Der Teufel.

Das Gebet ist Kampf gegen den Teufel: "Der Teufel fület wol, was yhm fur leid und schaden thuet, wenn das gebete recht ym schwang gehet" (WA 30 I, 197.14).

Wer Luthers Aussagen vom Teufel streichen wollte, würde die Hände voll haben, besonders wenn es um das Gebet geht. Der widersacher ist immer auf dem Plan, als aktiver, willender Gegner Gottes und des Menschen. Er ist der "alt böse Feind" (EKG 201), mit dem Luther im Gebet ringt. wenn wir den Teufel als etwa eine unpersönliche Macht, oder als das diffuse "Woher" eines bedauerlichen Zustandes erklären würden, wäre das mindestens weit von Luthers Vorstellungen entfernt. Nach einer unpersönlichen Macht wirft man nicht das Tintenfaß.

"Vor dem Teufel uns bewahr" bittet Luther mit der voreformatorischen Vorlage des "Gott der Vater wohn uns bei" (EKG 109).

Im "Vater unser im Himmelreich" (EKG 241), zur Bitte "Komme dein Reich", hat Luther das zweifache Kommen des Reiches vor Augen: "zu dieser Zeit und dort hernach in Ewigkeit". Das Kommen des Reiches zu dieser Zeit ist mit dem Ringen mit Satan verbunden: "Des Satans Zorn und groß Gewalt/ zerbrich, vor ihm den Kirch erhalt" (Str.3).

Als der Verklager tritt der Teufel im "Nun bitten wir den Heiligen Geist" auf (EKG 99). Er ist es, der in unserer äußersten Not versuchen, unserem Glauben ein Ende zu machen, so daß "die Sinne...verzagen". In diesem Lied ist der Teufel "der Feind" genannt. das Verhältnis zwischen "dem Feind" und "den Feinden" ist natürlich interessant. Wenn die Feinde den Glauben bekämpfen, steht hinter ihnen der Feind. Das steht wohl nie in den Liedern direkt ausgedrückt, doch ist es eine sachgemäße Interpretation der Gedanken Luthers, die sich aus anderen Erörterungen Luthers belegen ließe.

5.43.Der Tod.

Immer wieder begegnet uns in Luthers Liedern der Gedanke an den Tod als den letzten Feind. Der Gedanke an den Tod als ein harmonisches Abschieden von der Welt wäre Luther total fremd.

Zwar singt Luther: "Mit Fried und Freud fahr'ich dahin" (EKG 310), aber, wohlgemerkt: "der Tod ist mein Schlaf worden ... Das macht Christus, wahr Gottes Sohn" ( Von der 2. Strophe an ist dieses Lied als ein direkter Lobgesang und ein Du-Lied verfaßt). An sich ist der Tod bitter. Diese Überzeugung tritt vor allem in dem meisterhaften "Mitten wir im Leben sind" (EKG 309) hervor. Was Luther hier aus dem alten Antiphon gemacht hat, gehört m.E. zu dem tiefgreifendsten und schönsten was Luther geschaffen hat. Auch der Aufbau des Liedes erschließt die Auffassung Luthers vom Geheimnis des Todes:

Erstens: Im Leben ist der Tod da als die Mitte. Nicht an einem abschiebbaren Ende, sondern als die bestimmende Mitte ist er da.

Zweitens: Mitten im Tod begegnet uns die Hölle. Was uns bedrückt, ist nicht nur die Tatsache, daß das Leben ein Ende haben muß, sondern, daß dieses Ende den Schrecken des Verdammtseins bringt.

Drittens: Mitten in der Höllen Schrecken begegnet uns die eigene Sünde, d.h.: In der Verdammnis stehen wir uns selbst gegenüber, begegnet uns die Frucht unserer eigenen Taten. Deshalb steht es auch in der 1.Strophe: "Uns reuet unser Missetat,/ die Dich Herr erzürnet hat".

Mit diesem Verständnis des Verhältnisses zwischen zwischen Tod, Hölle und Sünde hängt auch Luthers Auffassung von der Versöhnung zusammen. In der neueren Lutherforschung hat es die Streitfrage gegeben, ob es die Erlösung von den Mächten oder die Vergebung der Sünden ist, welche bei Luther die Priorität habe, d.h.: ob das dramatisch-antagonistische oder das meritorisch-satisfactorische Aspekt der Versöhnung bei Luther grundlegend sei (zur Terminologie, Wertelius, 194).

Die Osterlieder zeigen deutlich wie Luther denkt, z.B. die 2. Strophe des "Christ lag in Todesbanden" (EKG 76): "Jesus Christus,Gottes Sohn,/ an unser Statt ist kommen / und hat die Sünd abgetan,/ damit dem Tod genommen/ all sein Recht und sein Gewalt" (unsere Unterstreichung). Siehe auch "Gott sei gelobet" (EKG 163) und "Jesus Christus unser Heiland" (EKG 77), wo Jesu Blut als Bezahlung für unsere Schuld, bzw. Jesus als Träger des Gotteszornes, im Blickpunkt steht. Dies alles zeigt, daß das meritorisch-satisfactorische (im Lutherschen Sinne) den Vorrang hat. Das Leiden unter den Mächten ist ein Verhängnis wegen der Sünde des Menschen. Trotz seiner starken Aussagen vom Ringen der Menschen und Christi mit den feindlichen Mächten ist Luther weit von jedem Manichäismus.

5.44 Die Sünde.

Luther hat nur ein einziges Bußlied im strengen Sinne geschrieben: "Aus tiefer Not" (EKG 195).

Als Sündenbekenntnis müßen wir doch auch das Zehn-Gebote-Lied in Betracht nehmen, nicht nur weil Luther, wie wir oben (S.4) gezeigt haben, die Gebote auch als eine Beichte benutzen konnte, sondern auch weil er in der Liedfassung die Gebote direkt mit dem wiederholten Kyrie-Ruf verknüpft hat und so als Sündenbekenntnis bezeichnet.

Von den obengenannten Liedern abgesehen müßen wir sagen, daß Luther kaum andere direkte Sündenbekenntnisse in Liedform verfaßt hat. Das mag überraschend sein, besonders im Blick auf Luthers intensive Beschäftigung mit den Bußpsalmen des ATs.

Wir würden uns aber irren, wenn wir behaupteten, daß das Sündenbekenntnis in Luthers sonstigen Liedern abwesend sei, nur weil es nicht in direkter Form ausgedrückt ist. Aus dem vorigen Abschnitt geht hervor, daß die Lieder, die von der Not des Menschen handeln, und vor allem vom Tod, zugleich auch als Bußlieder aufgefaßt werden können, die die Sünde des Menschen bekennen. Überhaupt gilt, daß jedes Bekenntnis zur Erlösung in Christo an sich auch ein Sündenbekenntnis ist. Das Christusbekenntnis ist Ort des Sündenbekenntnisses.

Mit Hinblick auf die Frage des Sündenbekenntnisses in Luthers Liedern sollten wir also, meiner meinung nach, es so auffassen, daß die Lieder im Ganzen von diesem Bekenntnis durchgedrungen sind, so daß es eine Perspektive des Ganzen ausmacht. Nicht in dem Sinne, daß Luther immer über die Sünde jammert; das tut er eben nicht. Vielmehr so, daß er in all seinem Loben, Danken und Bitten immer der demütige Empfänger der Zusage Gottes ist.

5.5.Die Bitte um Rettung.

Die zeitliche und die eschatologische Rettung.

Worum bittet Luther in seinen Nöten und in den Nöten der Kirche und der Welt?

Er bittet um die Erhaltung des zeitlichen Lebens. Natürlich ist es so, denn die Gedanken von der Erhaltung der Welt als ein ständiges Schöpfen Gottes sind ja ein Herzstück seiner Theologie. So treten sie auch in seinen Liedern hervor. Es geschieht im Psalmlied "Es wolle Gott uns gnädig sein" (EKG 182). Hier sagt Luther, daß die Heiden und alle Welt Gott danken, daß er richtet und nicht läßt die Sünde walten. Es geschieht auch im Vaterunser-Lied. Wer das Vaterunser betet, betet ja für alle Bedürfnisse des Lebens. Das Besondere des Vaterunsers ist eben, daß diese Bitte vom Herrn selbst gutgehießen ist.

Doch, wenn ich nicht falsch urteile, ist die Bitte um Erhaltung des zeitlichen Lebens gerade in den Liedern nicht stark hervortretend.

Luther bittet vor allem um die Erhaltung der Gottesgemeinschaft als eine todesüberwindende Gemeinschaft. Das Lied "Komm Heiliger Geist, Herre Gott" können wir als ein Kompendium des Gebets Luthers betrachten:

* Das Lob für die Erwählung des neuen Gottesvolkes.
* Die Bitte um rechter Gotteserkenntnis,
* um Behütung vor der falschen Lehre, weil sie den Weg zum rechtfertigenden Glauben                   verschließt,
* dann eben um diesen Glauben an Christus.

Die Bitte um den Glauben und dessen Bewahrung in der Not ist unbedingt das Hauptstück alles Betens bei Luther, in den Liedern, wie auch sonst.

Mit der Glaube gehört auch die Liebe zusammen, die eine Gabe des Geistes ist, siehe "Nun bitten wir den Heiligen Geist" (EKG 99), Str.3. Wenn Luther in derselben Strophe um den einen Sinn in der Kirche bittet, meint er wohl nicht eine Einheit der Liebe unabhängig von der Einheit im Glauben, sondern eben eine Einheit die beides umfaßt. Die Bitte um den einen Sinn begegnet uns wiederholt bei Luther, so auch im "Erhalt uns Gott bei deinem Wort" und im Glaubenslied (EKG 132).

Trotz der Sprache des Kampfes, die Luther gern benutzt, erwartet er nicht einen Sieg durch einen Machterweis Gottes im weltlichen Sinne. Das Rettungsmittel ist nur das Wort (EKG 142), und die Erhaltung geschieht durch Kreuz und Geringheit (siehe oben).

Die Bitte um die Erhaltung der todesüberwindenden Gemeinschaft mit Gott ist nicht ein passives Warten auf den Tod. Es handelt sich nicht um ein Warten auf das Ende, sondern um ein Harren auf Gott, das einen täglichen Glaubenskampf voraussetzt.

Der Kampf dauert bis zum Ende des Lebens, und der Feind tritt gerade inder letzten Stunde als der glaubensdrohende Verklager auf, siehe "Nun bitten wir den Heiligen Geist", Str.4. Um mit Worten aus dem großen Geisteslied "Komm, Heiliger Geist, Herre Gott" zu schließen:

O Herr durch deyn krafft uns bereyt
und sterck des fleysches blodickeyt,
Das wyr hye ritterlich ringen,
durch tod und leben zu dyr dringen.
Alleluia, Alleluia.

Arve Brunvoll

(Das obige wird den Interessierten als Manuskript meines Vortrags auf der Fachtagung der Lutherakademie e.V. Ratzeburg 2.-5. April 1986 zur Verfügung gestellt. Ich mache darauf aufmerksam, daß in anderen Sitzungen während der Tagung eine eingehende Behandlung der auch für unseres Thema wichtigen Lieder "Aus tiefer Not" und "Ein feste Burg" vorgesehen war. Diese sind dann von uns nicht behandelt. Die verschiedene Vorträge und Seminare der Tagung sollten in dieser Hinsicht als gegenseitig ergänzend betrachtet werden.)

Litteratur zu LUTHERS LIEDER ALS GEBETE.

Luthers Lieder,in WA 35.
Horst Beintker: "Zu Luthers Verständnis vom geistlichen Leben des Christen im Gebet", Lutherjahrbuch 31, Göttingen 1964, S. 47-68.
Heinrich Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, Göttingen 1979.
Markus Jenny: "Luthers Gesangbuch",in Helmar Junghans, Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2. Bde, Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin 1983, Bd. 1, S. 303-321.Vgl.Noten in Bd.2, S. 825-832.
Hermann Kunst: Martin Luther. Ein Hausbuch, Stuttgart 1982.
Christhard Mahrenholz: "Das Gebet des Einzelnen und der Gebetsgottesdienst der Gemeinde", in Zur Auferbauung des Leibes Christi. Festgabe für Professor D. Peter Brunner zum 65. Geburtstag am 25. April 1965, hrsg. v. Edmund Schlink und Albrecht Peters, Kassel 1965, S. 247-272.
Gerhard Schittko: "Martin Luther als Beter", in Kurt Heimbucher (Hrsg.), Luther und der Pietismus, Gießen 1983.
Kurt Dietrich Schmidt: "Luther lehrt beten", in Gesammelte Aufsätze, hrsg.v. Manfred Jacobs, Göttingen 1967, S. 137-148.
Oskar Söhngen: "Überlegungen zu den theologie- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des lutherischen  Pietismus", in Pietismus-Herrnhutertum-Erweckungsbewegung, Festschrift für Erich Beyreuther, hrsg. von Dietrich Meyer,Köln 1982, S. 3ff.
Derselbe: Theologie der Musik,Kassel 1967,  besonders Kap. 5. Martin Luther, S. 80-112.
Vilmos Vajta: "Luther als Beter", in Helmar Junghans, Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2. Bde, Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin 1983, Bd.1 , S. 279-295. Vgl. auch Noten in Bd. 2, S. 806-811.
G.Wainwright: Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine, and Life, New York 1980.
Gunnar Wertelius: Oratio continua. Das Verhältnis zwischen Glaube und Gebet in der Theologie Martin Luthers, Studia theologica lundensia 32, Lund 1970.


SEMINAR

Vorslag für das gemeinsame Arbeit im Seminar über Luthers Lieder als Gebete.

Arbeit mit ausgewählten Liedern in Bezug auf den Gebetscharater der Lieder. Wie kommen die verschiedenen Aspekte des Gebets in Luthers Liedern zum Ausdruck?

Wie können wir aus seinen Liedern beten lernen?

Können wir heute betend mit Luther singen? In Bezug auf Inhalt, bzw. auf Form?

Arve Brunvoll